Marlords

Die Legende von Moor

Sie waren jetzt fast auf der Spitze des Berges angekommen, der Wind blies stärker und der Junge sah sehr müde aus. Er hatte auf dem ganzen Weg kein einziges Mal geklagt, aber jetzt wurden seine Schritte kleiner und langsamer. „Ich kann nicht mehr”, sagte der Junge und ließ sich ins Gras fallen „Ich kann wirklich nicht mehr.”

„Dann setzen wir uns und machen eine Pause” schlug sein Begleiter vor.

Erleichtert streckte der Junge die Beine von sich und zog seine Schuhe aus. Verstohlen musterte er den Fremden, den er im Tal kennen gelernt hatte und der ihm angeboten hatte, ihn bis ins nächste Dorf mitzunehmen. Er wusste nichts von seinem Begleiter, nur, dass er „der Rote” genannt wurde. Sie hatten bis jetzt sehr wenig miteinander gesprochen, immerhin hatte der Rote gesagt, dass der Junge ihm vertrauen könne. Was blieb ihm schon anderes übrig?

Er zwang sich, nicht an zu Hause zu denken und fühlte, ob der Brief, den er überbringen sollte, sich noch in seiner Tasche befand. Er wusste nicht, was drin stand. Nur, dass der Brief sehr wichtig war und keinesfalls in fremde Hände gelangen durfte. Wie sollte er es bloß schaffen? Seine Füße waren jetzt schon geschwollen, er hatte seit Tagen gehungert und wollte nur noch schlafen und alles vergessen. Er legte sich ins Gras. Bald würde die Dunkelheit einbrechen.

„Kennst du die Legende von Moor?” fragte der Rote ihn.
„äh, nein.”
„Ich erzähle sie dir, wenn du willst.”
„Gut.”
„Du hast sicher schon von der großen Wanderung gehört?”
„Der großen Wanderung?”

„Ja. In alter Zeit lebten alle Stämme in einem anderen Land. Lange Zeit herrschte dort Frieden, denn das Land war groß genug, fruchtbar und sicher. Bis zu dem Tag, an dem wir noch heute unserer Toten gedenken und nicht essen.”

„Du meinst den schwarzen Tag?”

„Genau. An diesem Tag verdunkelte sich plötzlich die Sonne und das Land versank in Finsternis. Erst dachte man, es würde vorbei gehen, aber das tat es nicht. Die Finsternis beeinträchtigte die Ernten und auch das Jagen wurde immer schwieriger. Bald wurde den Menschen klar, dass die Tiere vor der Dunkelheit geflohen waren. Hin und wieder fanden sie ein verendetes Tier, dass in der Dunkelheit in eine Felsspalte geraten war oder sich ein Bein gebrochen hatte. Selbst die Hausschweine waren unruhig und wollten ausbrechen, vielen gelang es sogar. Als die Unruhe auch unter den Menschen immer größer wurde, weil sich die Dunkelheit auf die Herzen legte und ihren Mut beschwerte, es sogar zu einigen gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, wurde eine Großversammlung unter den Stämmen einberufen. Diese entschieden sich nach langen Verhandlungen dafür, den Tiere zu folgen. So lange, bis sie der Finsternis entronnen waren.”

„Aber wieso dachten sie, woanders würde die Sonne wieder scheinen?”

„Du bist ein kluger Junge. Genau das bezweifelten viele. Sie waren ohnehin schon mutlos und wollten lieber zu Hause in ihren eigenen Betten verhungern, als bis ans Ende irgendwo in der Finsternis umherzuirren. Du musst wissen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits ein Großteil der Vorräte aufgebraucht war und auch die Haustiere abgemagert waren. Es stand alles auf dem Spiel. Entweder, sie entschieden sich dafür, an eine bessere Zukunft zu glauben, dafür zu kämpfen und alles, was sie noch hatten für das Gelingen der Wanderung einzusetzen, oder sie gaben auf.”

„Wieso, sie hätten doch auch zu Hause bleiben können und darauf hoffen, dass die Sonne wiederkam.”

Der Rote lächelte und stand auf. „Lass uns weitergehen” Ohne Schwierigkeiten stand der Junge nun auf, er überlegte. „Woher wollten sie denn wissen, dass es nicht eine Sonnenfinsternis war, die morgen vorbei sein konnte?”

„Du hast natürlich Recht. Einige dachten so wie du, nicht wenige. Aber dann einigte man sich darauf, dass es für den Fall, dass es nur eine Sonnenfinsternis war, immer noch schwierig und langwierig sein würde, das Land wieder fruchtbar zu machen und die Tiere würden gewiss auch nicht sofort wieder zurückkehren, wenn überhaupt. Es machte keinen Sinn, dort zu bleiben. Es war jedoch auch klar, dass die Wanderung möglicherweise viele Opfer kosten, wenn nicht sogar allen, die daran beteiligt waren den Tod bringen würde. Sie musste so sorgfältig wie möglich geplant und durchgeführt werden.”

„Aber wie?” ereiferte sich der Junge, der nun scheinbar mühelos ausschritt „Wie konnten sie denn etwas planen, von dem sie nichts wussten? Sie wussten doch nicht, wohin sie gehen würden, oder?”

„Genau. Das war der Haken. Sie wussten gar nichts. Natürlich kannten sie sich in der Umgebung einigermaßen aus, aber sie lag ebenfalls in tiefer Finsternis, soviel hatten sie in den vergangenen Monaten bereits ausgekundschaftet. Es gab nur eine Lösung. Kannst du sie dir denken?”

Angestrengt dachte der Junge nach. Die zunehmende Steigung schien im nichts auszumachen. Schließlich gab er auf: „Das war doch Wahnsinn. Ich weiß keine Lösung.”

„Nun ja, du hast ja auch nicht sehr lange darüber nachgedacht. Die Vollversammlung dauerte mehrere Tage, und am Ende hatten sie die Lösung: Jedes Dorf, jede Stadt, ernannte einen Marlord. Das waren diejenigen, die sich durch besonderen Mut, besondere Stärke, besondere Klugheit, List oder andere besonderen Eigenschaften hervortat. Es konnte auch jemand sein, der sich einfach dadurch auszeichnete, dass er das Glück in besonderer Weise anzuziehen schien.”

„Von Marlords hab ich schon mal was gehört, aber das war früher...” murmelte der Junge. „Erzähl weiter!”

„Den Marlords wurde sofort eine wichtige Entscheidung übertragen, die wichtigste überhaupt, die zu diesem Zeitpunkt getroffen werden musste.”

Der Rote sah den Jungen auffordernd an, aber der zuckte nur ungeduldig mit den Schultern. Sie waren auf dem letzten Stück der Bergbesteigung angekommen und kletterten einen steilen, steinigen Hang hoch. „Sag schon, welche war’s?”

„Die Marlords mussten die Richtung bestimmen, in die man aufbrechen wollte, denn alle waren sich einig, dass sie zusammen losziehen würden, sei es in eine bessere Zukunft oder das Verderben. Wie du schon weißt, entschieden sie sich richtig, denn heute...”

Der Rote zog sich nun über den letzten Felsen vor dem Gipfel, reichte dann dem Jungen seinen Arm und zog ihn herauf. „Heute leben wir alle hier, in unserem Land Moor, in dem die große Wanderung nach 56 Tagen und insgesamt neunzehn Verlusten ihr zukunftbringendes Ziel erreichte.”

Sie standen jetzt auf dem Gipfel. Das Land unter ihnen schimmerte in den letzten Strahlen der Abendsonne. Man konnte die drei Flüsse glitzern sehen, die satten Felder, die eine gute Ernte verhießen, die geduckten kleinen Häuser, die von hier oben winzig aussahen. Die Lichter, die aus den Fenstern schienen und den Jungen an wohlige Abende mit seinen Eltern und Geschwistern erinnerten. Er atmete tief durch. Die Geschichte ließ ihn noch nicht los:

„Und die Marlords?”
„Was meinst du?”
„Wer waren sie? Was wurde aus ihnen?”
„Niemand weiß es.”
„Wieso weiß es niemand? Wieso kennen wir die Namen nicht?”

„Nun, du musst wissen, es blieb nicht bei den Marlords der ersten Stunde. Die große Wanderung erforderte so viel. Es kamen immer neue, verschiedenartige Situationen oder Gefahren vor, zu deren Lösung oder Überwindung die Marlords andere aus den Stämmen hinzuziehen mussten. Am Ende wusste keiner mehr, wer am Anfang dabei war. Es kam eben nur darauf an, dass sie es zusammen schaffen mussten. Als sie in Moor angekommen waren, übernahmen es kluge und vernünftige Marlords, das Land aufzuteilen, aber das waren zum großen Teil wieder andere, als diejenigen, die sich auf der Wanderung hervorgetan hatten. Es ging einfach nicht darum, sich einen großen Namen zu machen, sondern die Sache für alle zum besten zu wenden, verstehst du?”

„ähm, schon.” sagte der Junge. Er betastete seine Tasche und richtete sich dann sehr gerade und entschlossen auf. „Die Sache hinkriegen, ich verstehe schon”, sagte er fest.

„Genau. Weißt du, Marlord kann eigentlich jeder zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort werden, er muss nur den richtigen Mut aufbringen und dann die Sache hinkriegen. Das ist eigentlich alles” Der Rote lachte „Eigentlich alles.”

Sie lachten noch eine Weile gemeinsam und sahen dabei zu, wie Moor unter ihnen in der hereinbrechenden Dunkelheit verschwand. Dann legten sie sich zum Schlafen nieder. Als die Sonne am nächsten Tag aufging, war der Junge sehr erleichtert. In der Nacht hatte er wenig geschlafen und unruhig überlegt, was er zu tun hatte. Er hatte sich entschlossen, den Brief zu lesen. Schließlich hatte es ihm niemand verboten, und falls der Brief doch auf irgend eine Weise verloren ging, konnte er die Botschaft wenigstens mündlich überbringen. Es war ihm zwar nicht wohl dabei, aber er glaubte, dass es richtig war, den Brief zu lesen. Der Rote schlief noch immer, aber sicherheitshalber entfernte sich der Junge ein paar Meter vom Schlafplatz und setzte sich dort auf einen Felsen, so dass er seinen Begleiter im Blick behalten konnte, während er den Brief las. Der Rote hatte sich in seinen Umhang gehüllt und sah im Schlaf noch ernster aus als sonst. Der Zeitpunkt war gekommen. Der Junge brach das Siegel auf. Er musste die Botschaft noch mehrmals lesen, bis er glauben konnte, dass er sie wirklich vor sich sah und das alles nicht nur träumte. Die Botschaft lautete:

„Hört auf den Roten.”
aus Doktor Lilienthals Diarium  
Berichte aus Moor, 1. Teil  
A.Lilienthal © 2004